ein Freitag im Juli in München

Ich schreibe mal meine Chronologie der Ereignisse auf, vielleicht ist das wichtig für mich, für andere, vielleicht zeigt sie, wie man reagiert, wie Menschen reagieren. Auch andere haben das im Web übrigens getan, zum Beispiel Karsten Lohmeyer auf Facebook.

ca. 18.40: Wir sind kurz davor mit K1 (11 J.) und zwei Koffern und zwei Kinderrucksäcken das Haus für das Wochenende zu verlassen. Ihr Handy brummt: die Verwandtschaft arbeitet hinter dem OEZ und meldet über den Familienchat, dass man nicht in die Nähe des OEZ kommen solle, weil viel Polizei unterwegs sei. Gleichzeitig springt die Spiegel-Online-Eilmeldung an.

ca. 18.45: Mein Handy brummt: eine Freundin chattet an einen geografisch verteilten Freundesverteiler aus 40km Entfernung von München: „München Katastrophe!“. Ich konsultiere Twitter: Viel Polizei vor dem OEZ, angeblich Schießerei. Ich chatte zurück: „Ruhig bleiben. Man weiß noch gar nichts. Keine Panik.“ Von uns zum OEZ sind rund 8km Luftlinie. Wir ziehen mit Sack und Pack los K2 (9 J.) vom Kindergeburtstag abholen, damit wir von dort direkt mit der U-Bahn zum Hauptbahnhof weiter können, der Zug fährt um 19.55 Uhr, das sollte zu schaffen sein.

Whatsapp, München, Schießerei

Bestes Kommunikationsmittel des Abends: Whatsapp. Trotzdem durfte man sich auch dadurch nicht in Panik versetzen lassen. Anfangs habe ich nich beruhigt.

ca. 19.15: Wir stehen vor dem Eingang zum U-Bahnhof Fraunhoferstraße. Ich will mit den Kindern ins Untergeschoß, während sie noch Fahrtverpflegung beim Bäcker gegenüber besorgt. Aus dem Untergeschoß kommen laufend Leute nach oben: „Da fährt nix mehr. Keine U-Bahn mehr.“ Komisch. Als sie wieder da ist, mache ich alleine einen Versuch, werde aber schon wieder am obersten Treppenabsatz ausgebremst: „No  train, no underground“, und „da fährt nix“. Auf meine Frage, ob nicht wenigsten die U2, die nicht das OEZ ansteuert, fahren würde: „gar nichts fährt.“ Wir sehen uns an: ok, dann mit dem Bus zum Ostbahnhof. Also zur Bushaltestelle. Dort stehe ungefähr 10 Personen, darunter zahlreiche ausländische Mitbürger mit Kinderwagen und warten. Die Busanzeige funktioniert. Aber es ist auf der gesamten Corneliusstraße, die gut einsehbar ist, kein einziger Bus unterwegs.

19.30: Wir entscheiden, mit dem Auto zu fahren. Das Auto steht 600m entfernt. Nur den Autoschlüssel haben wir nicht dabei. Ich weise sie und die Kinder ausdrücklich und ernst an, sich nur von der Bushaltestelle fortzubewegen, wenn es wirklich Ernst sei. Das habe ich wortwörtlich so gesagt. Ich laufe los, 150 Meter, maximal. Ich schließe die Haustür auf und rufe meine Schwester an, um zu sagen, dass wir  später kommen. Während ich mit einer Hand das Handy halte, versuche ich mit der anderen den Knäuel um die Schlüsselbänder zu entwirren. Endlich ist der Schlüssel befreit.

19.35: Mein Handy läutet erneut: eine Freundin ist zu Besuch in München und panisch, weil am Marienplatz Chaos herrscht sie ist auf dem Weg zu uns. Ich versuche sie zu beruhigen und ihr klar zu machen, dass ich schon wieder aus dem Haus muss. Sie ist verzweifelt, aber meine Lebensgefährtin und die Kinder warten auf mich. Also sage ich, dass wir in Verbindung bleiben und sie weiter in unsere Richtung gehen soll und wir uns treffen können. Ich sperre die Türe ab und spurte los zur Bushaltestelle.

19.40: Aus weiter Entfernung sehe ich, dass an der Bushaltestelle niemand mehr ist. „Verdammt“, denke ich, „sie sollten doch warten“ und im nächsten Augenblick fällt mir auf, dass die Straße menschenleer ist. Unfassbar. Ich laufe schneller und hoffe, sie im nächsten Hauseingang zu sehen, aber nichts, niemand. Ich laufe schneller, da sehe ich am Gärtnerplatz ein Polizeiauto; davor stehen Polizisten mit Maschinenpistolen in der Hand.

Mein Handy läutet: K1 ist dran: „Markus komm‘ schnell, wir sind in der Bar neben unserem Buchladen.“ Ich laufe weiter Richtung der Polizisten, im Vorbeilaufen rufe ich „Ist es wirklich so ernst?“. Als Antwort meine ich etwas zu hören, wie „Schau das du rein kommst.“ Ich wechsle auf die Straßenseite der Buchhandlung, gleich bin ich da, wie soll ich sie finden? (Erst Tage später entdeckte ich auf meinem Handy, dass sie mir zwischenzeitlich den Namen der Bar gewhatsappt hat.) Im Laufen höre ich ein Klopfen an eine Scheibe und bleibe stehen, drehe um, da höre ich schon das Türschloss und die Rufe der Kinder: „Komm rein schnell.“ Zack drinnen, Türe zu, Schlüssel rum. Dunkel, bis auf das Licht durch die Scheibe.

19.50: Erste Orientierung: der Tresen steht im rechten Winkel zur Schaufensterscheibe, dahinter drei Männer, Mitte zwanzig. Vor dem Tresen Stühle an der Wand gegenüber aufgereiht, unsere Koffer. Der Raum ist so breit, dass hinter dem Tresen Platz für den Barkeeper und ein Regal mit Flaschen ist und auf der anderen Seite Platz für Barhocker und einen Durchgang dahinter. Sie sitzt mit den Kindern am Boden am Ende des Tresens auf zwei Stufen, die zur Besenkammer und Toilette führen. Daneben hocken zwei Frauen, knapp 20, auf Barhockern hinter das schmale Ende des Tresens geklemmt. In der Besenkammer noch eine Frau und davor in der Türe ein junger Mann, beide ebenfalls um die Zwanzig. Ich stelle mich auf den obersten Treppenabsatz. Insgesamt ist die Bar dunkel und wird nach hinten immer dunkler.

Es beginnen vorsichtige Gespräche: woher kommt ihr, wo wollt ihr hin, wo müsst ihr hin. Was wisst ihr, wann habt ihr etwas erfahren. Zwischendurch traut sich einer von den Jungs hinter der Bar immer wieder näher an die Scheibe: sehr wenige Leute draußen, keine Anzeichen für eine Änderung der Lage. Warum wir hier sind, weiß eigentlich keiner so genau, konkrete Infos gibt es nicht – Entwarnung, von wem auch, schon gar nicht. Alle starren auf die Bildschirme ihrer Handys. Die Bilder kennt man aus anderen Situationen: Menschen in der Dunkelheit, deren Gesichter durch weißes Bildschirmlicht erleuchtet sind. Eine Frau erreicht ihre Eltern und beruhigt sie. Wir erhalten mehr Infos über spezielle Kontakte; die Anzeichen mehren sich, dass hier wirklich etwas Schlimmes passiert ist. Die Kinder reagieren in der Anspannung unterschiedlich: zwischen plappern, was das Zeug hält, und eng kuscheln.

München, opendoor

München #opendoor in der Dive Bar, nicht aber im Cotidiano gegenüber. Typisch: die Gesichter glühen im Licht der Smartphones.

Ich erreiche im dritten Anlauf die Freundin, die auf Besuch in München ist. Sie steht vor unserem Haus, wir sind nicht da. Sie ist verzweifelt, ich flehe sie an, in die Bar gegenüber zu gehen uns sich hinter dem Tresen zu verstecken. Wenig später meldet sie sich per Whatsapp, dass sie dort ist. Whatsapp ist überhaupt das Mittel der Wahl; ich komme nur bei ungefähr jedem dritten Anrufversuch durch. Irgendwann tippe ich auch mal bei Facebook auf den Sicherheitscheck, ohne nachzudenken, darüber, dass ich ja nur im Moment des Knopfdrucks in Sicherheit bin.

19.55: Mit hoher Geschwindigkeit fährt ein Polizei-VW-Bus vor und hält abrupt direkt vor der Bar. Sofort öffnen sich die Türen, drei schwarz gekleidete Polizisten (ohne Helm und Maskierung, nur falls einer fragt) steigen aus. Sie mühen sich sichtlich ab, ihre Maschinenpistolen dabei ordnungsgemäß zu handhaben (keine Kritik, eher Verständnis für diejenigen, die auch nicht tagtäglich in einer solchen Lage sind). Sie verschwinden links die Straße runter, rufen offenbar noch „rein, rein“. Wir rücken weiter nach hinten in die Dunkelheit der Bar, kauern hinter dem schmalen Ende und drücken uns zu Dritt in die Besenkammer. Einer raucht, dabei wird mir bewusst, dass die Luft steht, es ist zu warm. Der Raucher hat es selbst bemerkt und klappt das Fenster über der Türe weiter auf.

München, opendoor

Noch ernster geht nicht mehr: plötzlich hält auch noch ein Bus mit schwer bewaffneten Polizisten vor der Bar.

20.05: Die Straße ist menschenleer. Das Polizeiauto steht vor dem Schaufenster. Keine Bewegung auf der Straße. Angespannte Stille unter uns in der Bar. Nur durch das geöffnete Fenster hört man den Hubschrauber über uns; er wird lauter und lauter bis das Knattern dauerhaft über uns bleibt. „Es ist Ernst, so ernst wie nie vorher,“ denke ich. Und immer wieder: „Es darf nicht sein, du gewinnst eher im Lotto, als bei einem Terroranschlag zu sterben“ und „das ist doch der falsche Film hier, nicht ich, nicht wir, nicht in München“.

Es tut sich weiterhin nichts auf der Straße. Einer hat sein Handy auf den Tresen gestellt und streamt N24, zwischendurch ruft Michaela an und unterbricht den Stream. Er muss seine Freundin beruhigen. Du bist mittendrin und im Hintergrund nervt der Stream: Reporter, die nichts wissen, interviewen Politiker, die nichts wissen und zeigen Bilder, auf denen nichts zu sehen ist; dieses Medienphänomen übrigens schön thematisiert im Czyslansky Blog. Vor lauter Angst vor dem Social-Media-Wahnsinn habe ausgerechnet ich übrigens vergessen, der Münchner Polizei auf Twitter zu folgen; ein Fehler, wie sich im nachhinein herausgestellt hat.

Wir fragen tatsächlich, ob es ein Radio in der Bar gibt – natürlich nicht. Ich traue mich, zwei Bilder mit dem Smartphone zu machen. Das sind die Einzigen von dem Abend. Schließlich fangen wir an, uns gegenseitig vorzustellen. Offenbar hat jeder das Gefühl, dass es länger werden kann. Bier gibt es und die Chips-Dosen habe ich auch schon gesehen. Eine Nacht werden wir überleben, für die Kinder gibt es mindestens Leitungswasser – sind die Gedanken.

20.25: Da kommen die Polizisten zurück; nicht entspannt, aber auch nicht weiter aufgeregt. Sie setzen sich in das Auto und fahren davon. Wir sind quasi alleine gelassen. Wir sind ratlos. Heißt das, wir dürfen jetzt wieder raus? Heißt das, es ist nicht mehr gefährlich draußen. Auch das nervige Knattern des Hubschraubers wird leiser und entfernt sich schließlich ganz. Als erstes wagen sich die Radler auf die Straße. Etwas schneller als sonst, was aber offensichtlich eher daran liegt, dass noch keine Autos und Fußgänger unterwegs sind. Dann tauchen auch die ersten Fußgänger vor der Scheibe auf; auf der Straßenseite gegenüber sehen wir Leute aus den Geschäften und Kneipen kommen. Als erstes wagt sich das Pärchen nach draußen: Richtung Isartor wird schon gehen. Sie verabschieden sich. Wir diskutieren mit den beiden Frauen aus dem Emsland noch, welchen Weg sie zu ihrem Hotel nach Thalkirchen nehmen sollen. Noch gibt es keine offizielle Entwarnung und nachts an der Isar entlang ist wohl nicht ratsam. Draußen beginnt das Leben wieder. Autos fahren, Radler und Fußgänger werden mehr.

Die Freundin meldet sich per Whatsapp aus der Bar, sie wurde von einem Verwandten, der mit dem Auto in der Stadt war, abgeholt. Ich frage zurück, wie die Lage bei ihr ist. Wir denken aber keine Sekunde daran, nach Hause zu wollen. Wir wollen jetzt noch mehr raus aus der Stadt, wie wir es sowieso vor hatten. Sie meldet sich, und teilt mit das die Fahrt aus der Stadt problemlos geht.

20.35: Wir bedanken uns und beschließen so schnell wie möglich zum Auto zu gehen und auf schnellstem Wege aus München raus zu fahren, möglichst so, dass wir in keine Verkehrskontrollen auf großen Ausfallstraßen kommen. Auf dem Weg zum Auto stellen wir fest, dass die Sitzplätze draußen vor der Deutschen Eiche, alle belegt sind, als ob nichts gewesen wäre. Trotzdem sind viel weniger Menschen auf der Straße als sonst und alles läuft irgendwie gedämpft ab.

20.40: Wir sind beim Auto, schmeißen unser Gepäck hinten rein. Da meldet sich die Blase. Egal, schnell zwischen den geparkten Autos. Währenddessen frage ich den Sushi-Lieferservice, der vor uns die Einfahrt zuparkt, ob er heute Abend das Geschäft seines Lebens macht – Pustekuchen, die Polizei hat ihn angewiesen, seinen Laden zu schließen. Wir fahren los, wenig Verkehr für einen Freitagabend, aber Autos unterwegs. Ungemütlich, wenn man am Isartorplatz mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten auf der Verkehrsinsel sieht. Bilder, die man aus Deutschland nicht kennt.

Wir kommen zügig voran Richtung Osten; dann stoppt uns die Trambahnbaustelle in der Einsteinstraße, kurz bevor wir auf der Autobahn sind. Die Anspannung im Auto steigt nochmal kurz – und  löst sich, sobald wir auf der Autobahn freie Fahrt haben. Jetzt konzentriert raus und dann weg auf die Landstraße. Bis nach Grafing hören wir Radio, um festzustellen, ob Straßen gesperrt sind, was nicht der Fall zu sein scheint (oder vielleicht auch nicht bekannt gegeben wird).

21.30: Erst nach Grafing melden sich Hunger und Durst bei uns und bei den Kindern, wir fahren vor einem Maisfeld rechts in einen Feldweg, rechts von uns eine Wiese, die in mehr Dunkelheit als Dämmerung liegt. Ich springe aus dem Auto: Herrlich, der Duft nach Odel (Jauche) und keine Menschenseele weit und breit. Nur Ruhe, die Anspannung fällt ab. K2 legt sich der Länge nach auf den Boden. Wir teilen uns Semmeln und Getränke. Auf der Weiterfahrt informieren wir Familien und Freunde via Chat, dass wir gesund aus der Stadt geflohen sind.

Was für ein Abend, im Juli, in München.

PS: Richtig gut: das Bier 5 Tage später bei Thomas, dem Barkeeper, in der Dive Bar, der uns Unterschlupf gewährt. Netter, langer Abend, der mit leckeren Cocktails endete.

PPS: Drei Tage später, was ich nicht brauche: Witzbolde, die solche Bücher in der U-Bahn liegen lassen. Das Foto ist nicht gestellt, ich habe das Buch nicht angefasst.

München, opendoor

Sehr witzig – ein mulmiges Gefühl stellt sich ein, wenn man plötzlich solche Lektüre neben sich in der U-Bahn findet.

4 Comments on “ein Freitag im Juli in München”

    • Danke für deinen Kommentar und Entschuldigung für die späte Antwort. Ich kann nicht genau zuordnen, auf was sich das „übertrieben“ bezieht.
      Mit mehreren Tagen oder gar Wochen Abstand erscheint manches an dem Abend übertrieben. Ich kenne aber mittlerweile mehrere Schilderungen von glaubwürdigen Leuten, die an dem Abend in München unterwegs waren bzw. festsaßen, und die meisten erzählen ähnliche Erlebnisse. Deshalb auch der Link im Beitrag auf den Artikel von Karsten Lohmeyer dazu.

  1. Hallo Markus, ich bin einer der jungen Männer. Derjenige der an besagtem Abend in der Dive Bar geraucht und auch sein Mobiltelefon aufgestellt hat. Bin durch Tom, den Barkeeper, auf diesen Blog gestoßen.
    Mit Gänsehaut habe ich ihn mir soeben angeschaut und mehrmals durchgelesen. War ein seltsamer Abend der mir immer wieder ins Gedächtnis kommt. Du beschreibst genau was die Mehrheit von uns an diesem Abend fühlte und dachte. Ich hoffe dass ich solch ein seltsames, im nachhinein ungefährliches Erlebnis, nicht noch einmal erfahren muss. Sag den Jungs liebe Grüße!
    Beste Grüße Franz

    • Hallo Franz, danke für deinen Kommentar. Es beruhigt mich etwas, dass du meine Sicht der Dinge damit bestätigst. Irgendwie fühlt man sich im nachhinein schon verunsichert, ob man damals überreagiert hat. Aber das ging ja nicht nur uns so, sondern dem gesamten Sicherheitsapparat. Ich bin jetzt nicht gleich Stammgast in der Dive-Bar geworden, aber ich schaue sicher wieder mal vorbei, und werde deine Grüße gerne ausrichten. Grüße zurück Markus

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