Wie ich durch meine Mittwochmorgen-Twitter-Timeline scrollte, wurde ich wieder von Twitter selbst überrascht. Neben viel schlimmeren Dingen auf dieser Welt, hatte Twitter CEO wohl auf der CES in Las Vegas nicht dementiert, ab dem zweiten Quartal 2016 Tweets mit bis zu 10.000 Zeichen zu erlauben. Wer sich selbst ein Bild der Lage machen will, suche dort unter #Twitter10k, #beyond140 oder #pro140.
Hauptargument des Twitter-Chefs Jack Dorsey: Nutzer würden heute schon durch Text in Bildern und Videos und Bilder selbst, mehr Informationen verbreiten, als in 140 Zeichen passen. Als Beispiel lieferte er gleich sein Nicht-Dementi als Bild:
Neben wenigen uneingeschränkten Befürwortern machte sich vor allem Unmut breit. Schönes Beispiel lieferte die Twitter-Umfrage des Social-Media-Monitoring-Anbieters Brandwatch. Als ich mitmachte und auf die Ergebnisse blicken konnte, waren bei über 60 Teilnehmern 82 Prozent gegen die Auflösung der 140-Zeichen-Grenze.
Auch meine erste spontane Reaktion war Ablehnung. Ich beschloss aber, auch die Argumente der Pro-Fraktion zu lesen. Diese fasste Daniel Fiene @fiene in seinem Beitrag „fiene & warum xxl-twitter eine gute idee ist“ schön zusammen. Allerdings so richtig überzeugen kann er mich nicht. Warum, steht hier:
- 10.000 Zeichen sind Text! Im Snapchat-, Periscope-, Hangouts- und YouTube-Zeitalter ist es doch eher peinlich, dass der CEO eines führenden Silicon-Valley-Unternehmens Druckbuchstaben als Argument für grundlegende Änderungen seines Dienstes anführt. Es gehe ihm um Durchsuchbarkeit, sagt er. Hm, eigentlich ein Armutszeugnis, dass sich immer nur noch Text, nicht aber Bilder und Videos durchsuchen lassen, oder? Wie siehts aus, ihr vielgepriesenen Start-ups? Und Twitter, wo ist eigentlich deine Suchfunktion, von Hashtags mal abgesehen?
- Twitter ignoriert erneut seine Nutzer. Wenn wir mal die ganzen A-B-C- und Kurzzeit-Promis weglassen, wer ist auf Twitter wichtig? Richtig: die Info-Junkies; Nachrichtenabhängige aus aller Welt und solche, die Nachrichten produzieren und verbreiten. Es sind Nutzer, die gelernt haben, sich auf Twitter ihr eigenes Bild der Welt und von Ereignissen zusammenzustellen, das auf einer Vernetzung aus Medien, Journalisten vor Ort und Originalquellen beruht. Engagierte, intelligente Nutzer, die sich nicht abhängig machen wollen von einzelnen Medienportalen oder algorithmusgesteuerten Newsfeeds. Das bezieht sich übrigens nicht nur auf große Politik, sondern durchaus auch auf Fachinformationen für praktisch alle Branchen. Twitter war bisher nie die Quelle, sondern der beste Weg zu nahezu unerschöpflichen Quellen. Deshalb ist Twitter für Journalisten, Pressesprecher und Kommunikationsprofis so wichtig.
- Das bedeutet für mich: Twitter ignoriert erneut seine Kernkompetenzen. Um es mit einem Bild vom Bild zu sagen: Statt die Vorschau von Instagram auf Twitter absichtlich wegzuprogrammieren, war das genau die Stärke von Twitter. Nutzer gaben anderen Nutzern Hinweise, was für Themen (bei Instagram Bilder) sie wichtig und teilenswert fanden. So stellte man sich im Laufe der Zeit eine Twitter-Timeline aus Quellen für seriöse, lokale, internationale, humorvolle, persönliche News zusammen, ganz nach eigenem Geschmack. Je länger man den Quellen folgt, desto besser kann man sie einschätzen, desto sicherer ist man sich der Glaubwürdigkeit („für gewöhnlich gut informiert“, würden es die klassischen Medien nennen). Die Folge ist, dass Twitter für mich immer nur ein kurzer Zwischenstopp zwischen zwei Plattformen ist. Twitter führt mich auf Blogs, Webseiten, Facebook, Medium, Instagram, Pinterest und wie sie alle heißen. Nochmal: Twitter war aber nie selbst Quelle. Deshalb reichten auch die 140 Zeichen dank Kurz-URLs; Kürze, Würze und so.
- Ich
glaube fürchte, dass Twitter auch von der Content-Schwemme profitieren will. Der Verweis reicht nicht mehr, man möchte selbst Quelle sein. Statt „beste Hinweis-Maschine mit den bestinformiertesten Nutzern“ möchte man „Me Too“ werden. Ich höre den CEO schon gegenüber Entwicklern quengeln und seinen Investoren versprechen: „Ich will aber auch Instant Articles und Notes wie Facebook, ich will aber auch Schriftstellern wie auf Medium, ich will aber auch Minibloggen wie auf Tumblr.“ Den Kampf gegen die etablierten Content-Plattformen wird Twitter aber nicht gewinnen können – woher diese Zuversicht kommt, ist mir schleierhaft (und wieso Investoren das glauben sollen sowieso).
- Das Problem, das Sascha Lobo – man muss wohl sagen ‚in weiser Voraussicht‘ – Mitte Dezember beschrieben hat, bleibt also: die Investoren verstehen den Unterschied zwischen Facebook und Twitter nicht und können deshalb nicht kapieren, dass Twitter nicht mit diesem konkurriert. Statt dessen zwingen sie offenbar den Twitter-Chefs die Idee auf, dass Twitter so viele User wie Facebook bekommen könnte. Wie Sascha Lobo schreibt:
Twitter möchte noch facebookiger werden.
Das möchte ich aber nicht, denn Facebook habe ich schon, und ich liebe es nicht.
Ich verstehe Twitter nicht. Ich bin ein Freund von Veränderungen. Nur, ich will sie verstehen. Eine Veränderung ist nie per se gut, nur weil es eine Veränderung ist. Vermutlich muss ich nicht immer 10.000 Zeichen twittern, sondern kann auch nur 140 schreiben, richtig. Wenn ich aber zwischen vollständigen Hinweisen plötzlich immer wieder Teaser, schlimmstenfalls à la Buzzfeed, aussortieren muss, wird es mühsam. Was bekomme ich? Eine neue Plattform, deren Inhalte ich dann doch wieder auf pocket oder Evernote speichern muss? Wofür, was ist MEIN Nutzen?
Mir wäre es lieber, Twitter würde die Vorschaufunktionen optimieren und dafür enger mit den anderen, vermeintlich konkurrierenden, Content-Plattformen zusammen arbeiten (aberwitziges Beispiel: ein Tweet-This-Button auf Facebook) . Twitter könnte so die führende Maschine für die Verbreitung von hochwertigem Content werden, ein Traffic-Generator – den Traffic müssten dann die Plattformen bezahlen. Neben Mitgliedsgebühren ein weiteres Geschäftsmodell… aber das ist wieder eine neues Thema.
Wenn ich meine Zweifel habe, bin ich noch lange kein Fortschrittsverweigerer. Nur schon mal so vorgweggenommen.