Ich habe zu Dunkelkammerzeiten, zwischen 14 und 20 Jahren, schon mal versucht, mir mit Hilfe des ein oder anderen Fotobuchs einen besseren Blick anzulesen. Das fiel mir aber schwer, weil sie entweder Grundlagen behandelten, die ich schon kannte und verstand; oder weil sich viele Fotobücher so sehr mit Theorien der Bildgestaltung befassten, dass das Aufnehmen guter Bilder in den Hintergrund trat. Ich verlegte mich dann darauf, Fotobände anzusehen oder Fotozeitschriften durchzublättern oder besuchte hie und da Fotoausstellungen. Dabei reizen mich im Wesentlichen zwei Genres: Reportagen und Landschaften. Bilder, die sofort etwas in mir auslösen, spannende, traurige, dramatische Geschichten oder schöne Landschaften (gerne auch mit menschlichen Eingriffen).
Warum beachte ich ein Foto?
Ich glaube, wenn man beim Betrachten von Bildern plötzlich inne hält und zunächst nicht weiß warum, dann löst das Bild etwas in einem aus. Bei einem Bild, das einem überhaupt nicht gefällt, frage ich mich „Warum“? Warum wurde das Bild gemacht und warum hat es jemand ausgestellt; was hat das Bild besonderes, das ich nicht erkenne oder nicht verstehe, das versuche ich zu ergründen.
Wenn mir das Bild gefällt, frage ich mich genauso „Warum“. Warum verweile ich; was ist es, das den Impuls der Freude auslöst. Bei Reportagen ist es neben dem Interesse (oder Voyeurismus?) eher die Bewunderung, wie ein Fotograf, etwa im Krieg oder bei Katastrophen, die Ruhe bewahren kann. Bei Fotos frage ich oft auch nach der technischen Komponente: wie hat der Fotograf das gemacht. Kann ich das nachvollziehen oder kann ich vielleicht sogar nachmachen. Das ist, glaube ich, ist dann der Unterschied zwischen einem Künstler und einem guten Handwerker.
Foto-Künstler und Foto-Kopierer
Der Künstler (oder Kreative) schafft etwas Neues, Eigenes, noch nie dagewesenes. Der gute Handwerker schafft eben solche Dinge wie der Künstler, macht ihn aber nur nach, kopiert mehr oder weniger gut. Ich bewundere Fotografen, die es schaffen, einen eigenen unverwechselbaren Stil zu entwickeln. Mir reicht es, wenn ich es schaffe, Bilder, die mir gefallen, nachzumachen. Inspiration dafür können Bildbände sein, Ausstellungen, Fotomagazine, aber auch Reisebildbände oder sogar gute Postkarten oder Prospekte von Kamera- oder Objektivherstellern.
Anders ist es mir jetzt mit dem Fotobuch „Sehen und Gestalten“ von David duChemin aus dem dpunkt.verlag gegangen. Das Buch gelangte zufällig zu mir. Irgendwo in diesem Internetz habe ich gelesen, dass das Buch kostenlos als Download verfügbar ist. Diese Chance habe ich genutzt und das PDF dann auf mein Tablet geladen. Dort lag es dann bis auf den Weg in den Urlaub. Auf der 12-stündigen Fahrt von München nach Ostfriesland habe ich die ersten Kapitel gelesen und war begeistert.
Endlich ein Autor, der in einfachen Worten beschreibt, warum ein Bild wirkt. Endlich ein Autor, der gute Bilder als Beispiele anführt, aber nicht mit theoriebegleitenden Bildern langweilt oder mit hyperperfekten Fotos den Leser frustriert. Endlich ein Autor, der zugibt, dass es zwar viele Theorien gibt, diese aber nicht strapaziert, sondern in leicht verstehbaren Bildern zeigt und immer wieder betont, dass alleine die korrekte Einhaltung der Theorie kein gutes Bild macht. Der Autor schreckt auch vor Photoshop und Filtern nicht zurück. Kernfrage für ihn ist: wie erreichst du als Fotograf, dass der Betrachter des Bildes das empfindet, was du möchtest, dass er empfindet. Der Einsatz von Filtern ist erlaubt (nie vorher gehört: Singh Ray Blue Gold Polarisationsfilter, Kostenpunkt ca. 300 Dollar, verstärkt die Blau- und Goldtöne in Bildern, beispielsweise bei Abend- oder Morgenaufnahme); er rät Spezialobjektive, wie Tilt-Shift auszuprobieren (und verweist auf die günstigen Alternativen, z.B. von Lensbaby) ; und er lässt es zu, dass mit Photoshop Stimmungen verstärkt werden, eben um im Betrachter etwas auszulösen.
Seine Fotos kommentiert der Autor dabei immer etwas, er beschreibt die Aufnahmesituation und warum das Bild so geworden ist, wie es ist. Manchmal auch mit dem „was-wäre-wenn“ Gedanken, etwa, wenn die durchs Bild laufende Katze auch noch die gleiche Farbe wie die Fensterrahmen gehabt hätte.
Mehr machen aus Urlaubsfotos
Das Buch hat mir für die Urlaubsfotos die Augen geöffnet: nicht nur knipsen, sondern bevor man die Kamera vors Auge hält nachdenken (ich bleibe weiterhin trotz Display ein Sucherfotograf) . Warum will ich hier ein Bild machen, was sind die Elemente des Bilds, wie wirken die Elemente, wenn sie von der gesehenen Dreidimensionalität der Realität in ein zweidimensionales Foto übertragen werden.
Gibt es eine Möglichkeit, den Ausdruck der Situation noch zu verbessern, durch ein andere Perspektive, durch eine andere Brennweite oder eine andere Stimmung bei der Entwicklung. (Zugegeben, sehr oft stelle ich noch hinterher fest, dass aus der Aufnahmesituation noch Anderes und Besseres rauszuholen gewesen wäre, wenn ich mich mehr auf die Umgebung des Motivs eingelassen hätte; wenn ich einen Straßenmusikanten fotografiere, schaue ich halt instinktiv auf den Musiker und nicht auf das Muster der Pflastersteine, die Struktur der Mauer hinter ihm oder die Farbe des Geldsammelhutes vor ihm.)
Das Ergebnis, natürlich nicht bei allen, aber bei einigen meiner Bilder bestätigt mich: es ist wirklich ein gutes Fotobuch, dessen Lektüre lohnt, weil sich in der Praxis vieles umsetzen lässt. Vielleicht sollte ich mir einen Spickzettel machen und statt dem Info-Menü einblenden, wenn ich die Kamera anschalte.
Wer mehr will als Knipsen, wer von seinem Urlaub wenigstens ein paar Bilder mitbringen will, die über die reine Erinnerung hinausgehen, wer sich die Zeit nehmen will, vor dem Auslösen kurz nachzudenken, für den ist dieses Buch gemacht. Die anderen Bücher des Autors werde ich mir auch noch ansehen (oder kaufen). Und auf jeden Fall auf stöbern auf dem umfangreichen Blog von David duChemin.
Lasst mich wissen, welche Fotobücher ihr als Anregung und zur Weiterentwicklung des Blicks gut findet.
(Weil es leider notwendig ist: den Beitrag habe ich aus eigenem Antrieb geschrieben und bin dafür weder vom Verlag noch vom Autor oder sonst jemandem bezahlt oder anders belohnt worden.)